Spätestens mit den Terroranschlägen seit 2015 in den europäischen Hauptstädten Paris, Brüssel, London und Berlin und dem noch heute andauernden Konflikt in der Ost-Ukraine sowie der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 hat sich die geopolitische Situation in Europa grundlegend verändert. Eine Analyse aller relevanter Faktoren hat ergeben, dass eine Rückbesinnung auf die Bündnisverteidigung in Europa für die Allianz unabdingbar ist. Beim NATO-Gipfel in Warschau 2016 beschloss die NATO in diesem Zusammenhang unter anderem, ihre Kommandostruktur diesen neuen Gegebenheiten anzupassen, um den aktuellen und zukünftigen sicherheitspolitischen Herausforderungen besser begegnen zu können.
Im Februar 2018 billigten die NATO Verteidigungsminister einen entsprechenden Vorschlag, der u.a. vorsah, zwei neue Führungskommandos auf der operativen Ebene innerhalb der „NATO Force Structure“ (NFS) aufzustellen:
- das Joint Force Command Norfolk (JFC NF) in Norfolk, Virginia, verantwortlich für den transatlantischen Raum und
- das Joint Support and Enabling Command (JSEC) in Ulm, verantwortlich für den rückwärtigen Raum (Rear Area) des Oberbefehlshabers der NATO Streitkräfte in Europa (SACEUR).
Während des Treffens der Verteidigungsminister der NATO im Juni 2018 wurde Deutschland die Verantwortung als sogenannte Rahmennation (Framework Nation) für die Aufstellung des JSEC übertragen.
Für eine effektive Bündnisverteidigung setzt die NATO vorrangig auf die wirkungsvolle Abschreckung durch eine angemessene Präsenz von Streitkräften in ihren Mitgliedstaaten. Das wird gerade in Polen und den baltischen Staaten umgesetzt mit der Enhanced Forward Presence und der schnellen Eingreiftruppe Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) als potentielle erste Verstärkung, die lageabhängig durch weitere Kräfte (NATO Response Force und Follow on Forces) ergänzt werden kann. Hierfür sind Truppenbewegungen in und durch ganz Europa notwendig, um schnell und sicher Verstärkungskräfte in eine Krisenregion verlegen zu können. Die Glaubwürdigkeit und der Grad der Abschreckung hängen wesentlich davon ab, solche Truppenbewegungen nach kurzer Vorbereitungszeit und ggf. auch unter Bedrohung effektiv und sicher durchführen zu können.
Zuständig hierfür sind zunächst die truppenentsendenden Staaten. Die Verlegung der Streitkräfte – sei es per Flugzeug, Straße, Bahn und/oder Schiff – und ihre Zusammenführung in einem Sammelraum, insbesondere aber auch Maßnahmen zur Absicherung und der Bedarf an Ausbildungs- und Versorgungseinrichtungen wurden bislang stets direkt durch das entsendende Land mit den betroffenen Transit- oder Gastgeberländern individuell abgestimmt und koordiniert. Bis zu einem Unterstellungswechsel der Truppen unter das entsprechende NATO Führungskommando in einem Operationsgebiet, ist dieser Prozess eine Angelegenheit zwischen zwei oder mehreren souveränen Staaten. Er ist hoch komplex, in vielen Fällen zeitintensiv und bedeutet im schlechtesten Fall, dass SACEUR nicht immer ein klares Lagebild hat, wo sich seine Verstärkungskräfte zu einem bestimmten Zeitpunkt befinden und ob sie noch rechtzeitig dort eintreffen, wo sie benötigt werden.
An dieser Stelle beginnen die Kernaufgaben des Joint Support and Enabling Command, dessen Auftrag wie folgt lautet:
„…der NATO einen sicheren rückwärtigen Raum für strategische Aufmarschbewegungen sowie zur Unterstützung der Operationsführung und der Bündnispartner zur Verfügung zu stellen.“
Dieser rückwärtige Raum ist, grob umschrieben der Teil des europäischen Festlandes, der Territorialgewässer und des darüber befindlichen Luftraumes, die nicht einem der sogenannten Joint Force Command (JFC) in Brunssum oder Neapel als Operationsgebiet zugeordnet sind. Doch wie können diese koordinierenden Aufgaben in einem Raum souveräner Staaten wahrgenommen werden, ohne deren Hoheitsrechte zu beschneiden? Gerade der rückwärtige Raum darf insbesondere im Frieden und in der Krise nicht als ein Verantwortungsbereich im militärischen Sinne verstanden werden. Vielmehr muss das rückwärtige Gebiet als multifunktionaler Raum betrachtet werden, der vor allem als Durchmarschgebiet, Bereitstellungsraum und Versorgungsbasis dienen soll.
Das JSEC folgt dabei einem umfassenden Ansatz. Es werden vier Operationslinien unterschieden:
- zivile und militärische Sicherheit, Schutz eigener Kräfte,
- Gefechtsschadensbegrenzung,
- Ausbildung und Bereitstellung der Kräfte,
- Versorgung und Durchhaltefähigkeit
Jede dieser Operationslinien wird ganzheitlich innerhalb der fünf Dimensionen (Land, Luft, See, Cyberraum und seit kurzem auch der Weltraum) betrachtet und erforderliche Maßnahmen mit den jeweils zuständigen souveränen Staaten und anderen Akteuren (bspw. zivilen Betreibern, GOs/NGOs, aber auch der EU) abgestimmt und koordiniert. Die fünf wesentlichen Aufgabenbereiche des JSEC innerhalb der Operationslinien sind
- Aufbau eines funktionellen Netzwerkes bereits im Grundbetrieb, um im Falle einer Aktivierung als singulärer Ansprechpartner der NATO gegenüber den einzelnen Nationen zu dienen,
- Aufbau eines Lagebildes des rückwärtigen Raumes in enger Zusammenarbeit mit den Nationen und Erarbeitung von Grundlagenwissen,
- Befähigung der NATO- Kräfte und -Akteure zu Operationen,
- Operationsplanung,
- Führung von Operationen.
Ziel dabei ist das Schaffen eines sicheren und in allen Bereichen funktionsfähigen rückwärtigen Raumes, aus dem heraus Wirkung (Effekte) für ein NATO Operationsgebiet erzielt werden kann. U.a. geht es um den Aufmarsch und die Bereithaltung von Kräften mit einem zu jeder Zeit aktuellen Lagebild für den SACEUR.
Insbesondere, wenn eine spezifische Sicherheitsbedrohung vorliegt und der Aufmarsch unter Zeitdruck erfolgt, ist eine umfangreiche, transnationale Abstimmung und Koordination notwendig. Bei Verlegungen von Kräften für Operationen im Rahmen der Krisenbewältigung außerhalb der klassischen Bündnisverteidigung gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages, also z.B. für die International Security Assistance Force (ISAF) oder die Kosovo Force (KFOR), war das bislang meist nicht der Fall. In der Bündnisverteidigung gegen einen gleichwertigen Gegner, der in der Lage ist, seine Streitkräfte schnell zu verlegen und einzusetzen, ist diese besondere Herausforderung jedoch zu erwarten.
Die NATO muss daher bereit sein, schnell, effizient und nachhaltig reagieren zu können. Das erfordert nicht nur Flexibilität, hohe Einsatzbereitschaft und Geschwindigkeit, sondern auch, dass bereits im Vorfeld die Rollen und Verantwortlichkeiten zwischen den Nationen und Organisationen mit allen dazugehörigen Abläufen und Verfahren klar definiert und trainiert sein müssen – das schließt auch Nicht-NATO Staaten mit ein. Dabei geht es unter anderem um die Planung von Transportrouten und um logistische Kapazitäten, um den Schutz dieser Routen und Einrichtungen sowie die Verfügbarkeit von Ausbildungs- und Übungseinrichtungen. Und es geht nicht nur um militärische Einrichtungen, vielmehr um jede Art von kritischer Infrastruktur, Maßnahmen zur Cybersicherheit, Regelungen für den Warenverkehr, Zollfragen, Umgang mit zivilen Dienstleistern und noch vieles andere mehr. Die erforderliche Befähigung der beteiligten Institutionen versteht das JSEC als einen „Whole of Government Approach“ ähnlich dem allseits bekannten Comprehensive Approach. Dieser geht davon aus:
Jede Aktion des JSEC im Sinne der Auftragserfüllung wird somit in enger Abstimmung mit den Nationen erfolgen, unter Berücksichtigung der Souveränität.
Unter dem Strich wird das JSEC mit Blick auf die Kernaufgaben der NATO einen zentralen Beitrag leisten und durch seine Koordinationsfähigkeit den souveränen Nationen eine wirkungsvolle Unterstützungsleistung bieten!
Wo steht das JSEC jetzt?
Zum 1. Oktober 2019 hat das JSEC eine erste Teilbefähigung erlangt, die sogenannte Initial Operational Capability (IOC), um nun in den nächsten knapp zwei Jahren seine volle Einsatzbefähigung zu erreichen. Auf diesem Weg wird die Durchführung von Übungen eine zentrale Bedeutung spielen.
Das JSEC ist ein multinationales Hauptquartier mit einem multinationalen Gesicht. Mehr als die Hälfte der Dienstposten in der Friedensstruktur sind multinational ausgebracht.
Bereits heute leisten mehr als ein Dutzend Soldaten aus mehreren NATO Ländern am Standort Ulm für JSEC ihre Dienste. Die für die Anfangsbefähigung erforderliche Infrastruktur sowie die IT stehen zur Verfügung und werden in den nächsten Jahren in mehreren Schritten für die umfassende Aufgabenwahrnehmung weiter ausgebaut.
Mit der Aufstellung des JSEC leistet Deutschland als Rahmennation zusammen mit den teilnehmenden Nationen in einem breiten Ansatz, der weit über eine logistische Funktion hinausgeht, einen entscheidenden Beitrag zur Verteidigungsfähigkeit der NATO.
In 2020 wird das JSEC seine Initial Operational Capability unter Beweis stellen. Angelehnt an die Großübung DEFENDER EUROPE 20 (DE20) werden in einer parallel angelegten Übungsstruktur COMBINDED DEFENDER 20 (CODE20) die bisher im Kommando erarbeiteten Grundlagen und Einsatzverfahren erstmalig angewandt und auf Herz und Nieren erprobt werden. Ziel ist es, Mitte 2021 im Rahmen einer weiteren Großübung die NATO-Zertifizierung zu erhalten. Damit verbunden wird das JSEC im Oktober 2021 den Status der Full Operational Capability (FOC) erreichen.
Autor: BrigGen Seifert, stv Kommandeur des Multinationalen Kommando Operative Führung