Der ehemalige Generalinspekteur Klaus Naumann muss neulich in einem Zeitschriftenbeitrag für die Rotarier die Meinung geäußert haben, dass die Politik die Bundeswehr eigentlich nur als Eintrittskarte für die Teilhabe an der internationalen Politik betrachtet, und einen ernsthaften Einsatz in der Landes- oder Bündnisverteidigung gar nicht im Blick hat. Die Einsatzbereitschaft ist nicht wirklich ein Anliegen der Politik in Berlin.
Es wird zwar viel von einer Neubewertung der Bündnis- und Landesverteidigung gesprochen und mit dem plötzlich sehr schnellen Ende des Afghanistaneinsatzes wird auch die Dominanz der Kriseneinsätze nach zwei Jahrzehnten wohl zu Ende gehen. Sparpolitik und euphorische Fixierung auf Kriseneinsätze haben die Bundeswehr erheblich umgekrempelt und ihre Einsatzfähigkeit in der Landes- und Bündnisfähigkeit ruiniert. Da gibt es jetzt viel aufzuholen, aber mit den in der Trendwende wieder etwas besser gefüllten Kassen wird es nach Corona vorbei sein.
Die Berliner Politik scheint trotz aller Lippenbekenntnisse noch nicht wirklich begriffen zu haben, dass Deutschland eine zentrale Rolle bei der konventionellen Bündnisverteidigung in Europa zu spielen hat. Großbritannien hat sich in maßloser Selbstüberschätzung seiner Vision eines „Global Britain“ mit weltweiter Präsenz und Hochtechnologie zu Wasser, zu Lande, in der Luft, im Weltraum und im Cyberspace verschrieben, reduziert aber seine Kampf-panzer auf 150 Fahrzeuge. Frankreich verfolgt weiterhin ähnliche Ziele, hat aber jetzt in der jüngsten strategischen Standortbestimmung erkannt, dass es seinen Schwerpunkt stärker auf die Verteidigung Europas verlegen muss.
Das deutsche Fähigkeitsprofil der Bundeswehrplaner sieht eigentlich für 2031 wieder drei voll einsatzbereite Heeresdivisionen für das Bündnis vor, man dürfte aber nicht in der Lage sein, das dafür notwendige zweite Los von weiteren 266 Schützenpanzern PUMA in der neuesten, nun einsatzreifen Konfiguration zu finanzieren. Sowohl das für 2023 angestrebte Zwischenziel einer voll einsatzbereiten Brigade für die NATO-Speerspitze als auch eine erste im Jahre 2027 wieder voll ausgestattete Heeresdivision werden hinter den Erwartungen zurückbleiben. Inspekteur Schelleis bekannte neulich, dass seine Streitkräftebasis gegenwärtig nur zwei Divisionen in einem Einsatz unterstützen könnte. Das Logistikkommando denkt an die Aufstellung von zwei weiteren Logistikbataillon und einem zweiten logistischen Regimentsstab. Die Vorsorge für einen Massenanfall von Verwundeten in einem größeren Konflikt an der Bündnisperipherie erfordert auch eine Aufwuchs im Sanitätsdienst. Die Aufstellung des Sanitätsregiments 4 in Bentlage steht in diesem Kontext.
Als großes Defizit hat man angesichts der sich abzeichnenden Bedrohung durch Kampfdrohnen wieder die Nahbereichsluftverteidigung erkannt, nachdem man zehn Jahre zuvor noch die Heeresflugabwehrtruppe komplett aufgelöst hatte. Der Schwerpunkt der Mittel für die Luftverteidigung wird jetzt in diese Richtung verschoben und das am Ende fast fertig entwickelte, nur noch rein nationale Taktische Luftverteidigungssystem rückt in weite Ferne. Die in den 80er Jahren beschafften, immer wieder zu modernisierenden PATRIOT- Luftabwehrsysteme werden mindestens bis 2030 die bodengestützte Luftverteidigung gegen Flugzeuge und ballistische Kurzstreckenraketen wahrnehmen müssen.
Andererseits geht man mit Frankreich eine höchst kostenintensive Rüstungskooperation bei dem künftigen Kampfflugzeug FCAS ein, das in einen komplexen operativen Gefechtsverbund mit Drohnen, Satelliten und Bodenaufklärung eingebunden sein soll. Man sollte einmal kritisch hinterfragen, ob eine Zahl von am Ende dann vielleicht 100-150 Hochtechnologiesystemen mit einem Kostenrahmen von 100 Milliarden € oder mehr wirklich einen angemessenen Mehrwert an Feuerkraft und Agilität bringen, während man nicht in der Lage ist, die Hausaufgaben bei der Luftverteidigung und kampfkräftigen Heeresdivision zu erledigen.
Für die ab 2029 vorgesehenen 21 vorerst unbewaffneten Eurodrohnen der Bundeswehr hat der Haushaltsausschuss jetzt 4 Milliarden genehmigt. Für den gleichen Preis könnte man ein ganzes Luftwaffengeschwader mit Eurofightern oder F 35 Lightning II ausrüsten. Der Gefechtswert dieser vielseitigen Überschalljets der 4. Bzw. 5. Generation dürfte den der 21 mit 500 km/h fliegenden Eurodrohnen übersteigen. Hauptsache, die Eurodrohnen für Deutschland und seine Partner werden im bayerischen Manching montiert.
Man gewinnt den Eindruck, dass Europa- und Industriepolitik den Vorrang vor militärstrategischen und militärtaktischen Überlegungen haben. Marine-projekte haben es wegen der Industrie- und regionalen Strukturpolitik deutlich leichter, in die Tat umgesetzt zu werden, auch wenn die maritime Industrie an der Küste etwas brüskiert war, als eine niederländische Werft den Zuschlag für die Entwicklung von vier Fregatten 126 bekam. Die Fregatten 125 der „Württemberg-Klasse“ sind immer noch nicht voll einsatzbereit und den Einsatzwert dieser vier neuen Einheiten, die noch primär für Krisenintervention konzipiert waren, bei der Sicherung der Seewege im Atlantik darf man getrost bezweifeln.
Bei aller Euphorie für die Technik und Fixierung auf Szenarien im Cyberspace, Weltraum und einen Einsatz künstlicher Intelligenz hat die Bundeswehrführung immerhin die Ressource Mensch nicht ganz aus den Augen verloren. Eigentlich strebt man im nächsten Jahrzehnt eine Aktivstärke von 200.000 Soldaten an, aber im Augenblick dümpelt die Einsatzstärke weiterhin um die 184.000 Soldatinnen und Soldaten. Man hat erkannt, dass man in der Bündnis- und Landesverteidigung ohne einen nennenswerten Aufwuchs durch Reservisten nicht auskommt. Erst recht wurde deren Bedeutung in der Pandemie bestätigt. Es war nicht länger hinzunehmen, dass die bisher schon vorhandenen um die 62.000 Reservedienstposten nur zu 50 % mit Beorderungen unterlegt waren.
Man hat jetzt einen Ausweg dafür gefunden, dass Reservedienstleistungen (Wehrübungen) auch künftig nur freiwillig und mit Zustimmung der Arbeitgeber geleistet werden können. Durch die ab Oktober 2021 wirksame Grundbeorderung wird automatisch jeder ausscheidende Soldat für den Zeitraum von sechs Jahren für einen Reservedienstposten eingeplant. Man geht davon aus, dass die Soldaten schon während ihrer Dienstzeit auf eine Funktion in der Reserve vorbereitet werden und so dauerhaft einen Aufwuchs um ca. 90.000 nicht aktive Soldaten sicherstellen kann. Natürlich wird intensiv auch in dieser Zeit um das Engagement in freiwilligen Reservedienstleistungen geworden. Bisher waren Reservisten vorwiegend zur Verstärkung in aktiven Einheiten eingeplant oder bildeten in Ergänzungstruppenteilen nur einen Personalpool. Nur die Territoriale Reserve mit den KVK/BVK und RSU-Kompanien bildeten eigene Formationen. Künftig soll es wieder voll ausgerüstete Reservetruppenteile mit eigener Ausrüstung und Infrastruktur geben. Nur so wäre man in der Lage, die geplanten drei Divisionen einsatzbereit zu machen.
Ein großer Hype entstand um eine neue Variante des Aufwuchses durch das Freiwillige Dienstjahr im Heimatschutz. Im April begann in der Streitkräftebasis die erste Ausbildung dieser Freiwilligen in einer siebenmonatigen Grund- und Spezialausbildung und anschließender Verpflichtung zum Reservedienst für die Gesamtdauer von fünf Monaten. So will man vor allem die 30 künftig in Heimatschutzkompanien umbenannte RSU- Kompanien für Wach-, Sicherungs-und Katastrophenschutzaufgaben mit Beorderten füllen. Als organisatorisches Dach sollen bis 2025 fünf Landesregimenter als Stäbe aufgestellt werden. Trotz mancher Euphorie in unseren Reihen darf man getrost hinterfragen, ob die künftig auf 36 aufgestockten Heimatschutzkompanien in der Lage sein würden, einen angemessenen Schutz von ca. 3000 Objekten ziviler und militärischer kritischer Infrastruktur in einem hybriden Kriegsszenario sicherzustellen.
Für Verteidigungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit (Resilienz) in einem Krisen- und Kriegsfall reicht nicht nur die Vorsorge mit Gerät, Strukturen und Personal. Von entscheidender Bedeutung ist die staatsbürgerliche Gesinnung und der Wille zur Selbstbehauptung in der Bevölkerung. Hier dürften die Anzeichen einer Entfremdung zwischen der Truppe und der Gesellschaft bzw. Politik Sorge bereiten. Die Wahrnehmung der Bundeswehr in den Medien beschränkt sich weiterhin primär auf Skandale. Die fehlende Einsatzbereitschaft für die Verteidigung interessiert kaum jemanden.
Sönke Neitzel hat in seinem jüngsten Buch“ Deutschlands Krieger“ die Entfremdung eines Teiles der Bundeswehr, vor allem in den Kampftruppen, von der zivilen Gesellschaft thematisiert. Es gelte, die Existenz von militärischen Sonderkulturen, die sich nun einmal von der zivilen Welt unterscheiden, erst einmal als gegeben zu betrachten und die Soldaten nicht mit unrealistischen Normen und Werten der Zivilgesellschaft zu überfordern. Neitzel betont immer wieder, dass man die Bundeswehr besser abschaffen solle, wenn man ihren effizienten Einsatz für die Verteidigung nicht wirklich beabsichtigt.
Nun sorgt in den letzten Tagen noch ein neues heißes Eisen, das Verteidigungsministerin und Generalinspekteur angepackt haben, für neue Aufregung. Erneut soll die Führungsstruktur geändert werden. Es gab schon immer ein gewisses Unverständnis für die Tatsache, dass neben den klassischen drei Teilstreitkräften einer Streitmacht von fast 500.000 Aktiven in den Jahrzehnten des Truppenabbaus drei weitere eigenständige Organisationsbereiche aus dem Boden geschossen waren. Als Hauptgrund wurde die Bündelung von Fähigkeiten für die Bildung von maßgeschneiderten Einsatzmodulen genannt. So waren zahlreiche Querschnittsaufgaben der Logistik, Führungsunterstützung, Spezialaufgaben und zahlreiche territoriale Aufgaben in der Streitkräftebasis zusammengefasst worden. Die fachfachspezifischen Belange des Sanitätsdienstes rechtfertigten auch einen eigenen Organisationsbereich und im Zuge der starken Gewichtung der Informationstechnologie und Cyberkriegführung bildete man hier einen eigenen sechsten Bereich, für den man große Teile aus der Streitkräftebasis herausschnitt.
Mit dem in der Bündnisverteidigung sehr viel wahrscheinlicheren geschlossenen Einsatz von großen Formationen der Teilstreitkräfte beanspruchen diese wieder die unmittelbare Unterstellung von Kräften der Logistik und Einsatzunterstützung, wie das in früheren Strukturen der Fall war. Mit der Pandemie wurde auch ein Verbesserungsbedarf bei der militärischen Führung von territorialen Aufgaben im eigenen Land offensichtlich. Schon vor längerer Zeit kündigte der Generalinspekteur ein Führungskommando für die Landstreitkräfte an, das in Münster beheimatet werden soll. Seit einigen Tagen kursieren nun Gerüchte, dass die Logistik der Streitkräftebasis und der zentrale Sanitätsdienst wieder in die alten Teilstreitkräfte zurückgeführt werden sollen. Außerdem sei ein eigenes Kommando für einen nationalen territorialen Befehlshaber vorgesehen, eine Aufgabe, die bisher der Inspekteur der Streitkräftebasis wahrgenommen hat. Inwieweit sich diese Gerüchte bewahrheiten, die schon viel Unruhe in die Truppe gebracht haben, bleibt offen. Zu befürchten ist, dass damit im Zuge der enormen Schuldenlast durch die Pandemiekrise weitere Reduktionen einher gehen könnten.
Quelle:
Text: Jürgen Dreifke, Beauftragter sicherheitspolitische Arbeit VdRBw – Kreisgruppe Münster