„Die Bundesregierung hat wiederholt auf die Bedeutung der zivilen Verteidigung hingewiesen. Diese ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Gesamtverteidigung; in besonderem Maße dient sie dem Schutz der Bürger“….und weiter: „Die Bundesregierung ist bestrebt, den weiteren Ausbau der zivilen Verteidigung nach Kräften zu fördern. Sie erfüllt damit auch eine Verpflichtung, die ihr im Rahmen des Atlantischen Bündnisses obliegt….“
Dies schrieb Bundeskanzler Willy Brandt 1972 im Weißbuch zur zivilen Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland. Damals wie heute ist dieses Bekenntnis des ehemaligen Bundeskanzlers vordringlich und hat an seiner Bedeutung nichts verloren.
Parallel zu diesem Bekenntnis wird im diesem Weißbuch aber auch ohne Scham konstatiert, dass „die Probleme der zivilen Verteidigung im Rahmen der Gesamtverteidigung nur unzureichend gelöst“ worden seien und „die zivile Verteidigung in der Rangfolge politischer Prioritäten zurückgestuft und Wandlungen unterworfen wurde, die durch psychologische und politische Faktoren sowie durch die finanzielle Lage des Bundes“ bestimmt waren.
Soweit die Lagebeurteilung 1972. Doch wie stark unterscheidet sich eine Beurteilung des Zustandes der Zivilen Verteidigung heute im Jahr 2020 von damals? Trotz der im Jahr 2016 vom Bundeskabinett verabschiedeten so genannten „Konzeption Zivile Verteidigung“ sieht die Lage in der Realität kaum anders aus. Zumindest in Teilbereichen kann man sogar konstatieren, dass die Lage eher schlechter, und in einigen Bereichen sogar dramatisch schlechter ist, da seit Beginn der 90er Jahre bis 2016 zahlreiche Strukturen, Ressourcen und Fähigkeiten abgeschafft wurden und verloren gingen.
Seit 1972 hat es kein eigenständiges Weißbuch zur Zivilen Verteidigung mehr gegeben. In keinem der in den letzten Jahrzehnten folgenden „großen“ Weißbücher zur Sicherheitspolitik und zur Lage der Bundeswehr wurde der zivilen Verteidigung eine auch nur ansatzweise gleichrangige Bedeutung wie der militärischen Verteidigung zugemessen. Dabei kann eine erfolgreiche militärische Verteidigung bzw. ein erfolgreiches militärisches Operieren in Konflikten, Krisen und im Krieg nur dann dauerhaft möglich sein, wenn sie auf wirksame Fundamente der zivilen Verteidigung bauen und vertrauen kann.
Dies ist heute mehr denn je so, da die Streitkräfte, aus wirtschaftlichen Gründen auf ihr absolutes Kerngeschäft reduziert wurden und von zivilen Dienstleistungen und der Unterstützung aus dem zivilen öffentlichen und dem privaten Sektor abhängig sind wie selten zuvor.
Die Problematik rund um unser Thema beginnt heute schon mit dem Verständnis der eng zusammenhängenden Begriffe und Aufgaben von Gesamtverteidigung, militärischer Verteidigung und ziviler Verteidigung.
Im Rahmen der derzeit langsam verlaufenden Umsetzung der KZV – die Gründe sind ähnlich wie in der Analyse im Weißbuch von 1972, nämlich politische und psychologische sowie die niedrige Priorität bei angespannter Kassenlage – müssen verschiedene fachliche Rahmenkonzepte von der Bundesverwaltung wie dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) erarbeitet und dann in einen komplexen Abstimmungsprozess über die zu beteiligenden Bundesressorts mit den Ländern gegeben werden. In einem eigens dafür eingerichteten Bund-Länder-Steuerungsgremium werden diese Konzepte erörtert, bewertet und danach den formal zuständigen Gremien der Innenministerkonferenz, hier dem Arbeitskreis V und zuvor seinem nachgeordneten Fachausschuss (AFKzV) zugeleitet. Anders als bei der militärischen Verteidigung müssen zahlreiche Maßnahmen der zivilen Verteidigung mit und in den Ländern, bzw. mit und in den Landkreisen und Kommunen umgesetzt, auf- und ausgebaut werden.
Die Strukturen der zivilen Verteidigung auf der Länder- und der kommunalen Ebene, wie sie in den Zeiten des Kalten Krieges zumindest grundlegend bestanden, wurden nach dessen Ende aufgelöst, Ressourcen und Wissen verschwanden ebenso wie sichtbare Grundstrukturen und Organisationselemente. Die Vorgaben des Bundes in der ZV müssen unter anderem im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung in und durch die Länder umgesetzt werden, was die Einbindung der Länder in diesen Prozess unerlässlich macht. Eines der größten Probleme bei der derzeitigen Umsetzung der KZV besteht in enormen Personaldefiziten in der öffentlichen Verwaltung für diese Aufgaben auf allen Ebenen. Gleiches gilt für das nicht (mehr) vorhandene, teils sehr spezialisierte (Verwaltungs-)Wissen. So wird verständlich, warum allein aus diesen Gründen die Umsetzung sehr schwierig ist.
Die Bundesverwaltung hat in den letzten Jahren ein Rahmenkonzept für die Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsfunktionen speziell für einen Notbetrieb im Verteidigungsfall und die Ausweichsitzplanung erarbeitet. Es ist auf Bundesebene verbindlich für die Ressorts beschlossen und den Ländern zur Umsetzung gegeben worden. Doch dieses Konzept ist bei den Kommunen, die vor allem auch in der Krise funktionieren müssen, bis heute nicht angekommen. Dies ist auch bei wichtigen Elementen, wie bei der Zivilen Alarmplanung, der Fall.
Haushaltsmittel zur Härtung der baulichen wie der IT-Strukturen sowie vielfältige weiterer Maßnahmen müssen gefordert, bereitgestellt und in die Anwendung gebracht werden.
Im Zivilschutz wurden zwar Konzepte zur Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten, Erkrankten und Verwundeten sowie zur Betreuung von Evakuierten oder Geflüchteten erarbeitet, ebenso eine standardisierte Alarmplanung für Krankenhäuser. Doch diese Konzepte befinden sich noch im Bund-Länder-Abstimmungsmodus, in den zum großen Teil auch unsere Hilfsorganisationen.
Doch wie sieht es im Zivilschutz mit den besonders herausfordernden Aufgabenfeldern des CBRN-Schutzes, also des Schutzes vor chemischen, biologischen, radioaktiven und nuklearen Gefahren aus? Im Alltagsgeschäft sind unsere Feuerwehren gut aufgestellt. Jedoch sind chemische und biologische Gefahrenlagen eine ganz andere Größenordnung. In einem echten Verteidigungsfall wären die mit Bundesmitteln bereitgestellten Task Forces im Bereich B und C dann doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Hier braucht der Bund dringend mehr an Kapazitäten, die dann in den Ländern disloziert zum Einsatz kommen können.
Auch bei der dritten Säule, der Sicherstellung von lebens- und verteidigungswichtigen Versorgungsleistungen stehen wir vor großen Herausforderungen. Diese berühren auch das Thema Unterstützung der Streitkräfte deutlich. Während wir in früheren Jahren staatliche oder zumindest überwiegend öffentliche Anbieter von Transportleistungen oder Leistungen in der Energieversorgung hatten, befindet sich der gesamte Markt verteidigungsrelevanter Dienstleistungen heute in privater oder teilprivatisierter Hand.
Die Deutsche Bahn AG ist auf nationale Krisenlagen nur sehr begrenzt und auf einen Verteidigungsfall gar nicht vorbereitet. Es fehlen Loks, Spezial-Waggons und vor allem Ausweichstrecken für Militärtransporte. Und: es fehlt ein zentrales Konzept mit zentralen Ansprechpartnern und entsprechender Koordinierungsfunktion in dieser Holding mit ihren mannigfachen und wenig aufeinander abgestimmten Töchtern.
Kritische Infrastrukturen insgesamt verfügen kaum oder nur sehr begrenzt über ein eigenes wirkungsvolles Risiko- und Krisenmanagement, auch wenn Behörden wie das BBK hier seit Jahren an entsprechenden Konzepten wie einer Notstromversorgung arbeiten, diese in die Fläche bringen und Unternehmen auch in die regelmäßige nationale Stabsrahmenübung LÜKEX einbinden. Trotzdem ist die Mehrheit nicht auf einen Cyberangriff mit großflächigem und lange anhaltendem Stromausfall vorbereitet und durchhaltefähig. Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS), die früher durch z.B. eigene Treibstoffversorgung weitgehend autark waren, wären in solchen Krisen ebenfalls davon abhängig, dass es eine wirkungsvolle Versorgung mit Treibstoff für die Fahrzeuge und für die Notstromaggregate gibt.
Gerade auf dem Gebiet der Kritischen Infrastrukturen sehen wir, wie verletzlich Deutschland geworden ist. Wir haben uns von der sicheren Verfügbarkeit von elektrischem Strom und von IT-Leistungen in allen Lebensbereichen technisch abhängig gemacht. Die ansonsten sehr nützliche Digitalisierung durchdringt alle Arbeitsbereiche. Privatisierung, ökonomisch bedingte Auslagerungen von wichtigen Dienstleistungen, Zentralisierung von Steuerungsprozessen in nahezu allen Versorgungsinfrastrukturen, die für Effizienz stehen sollen, bekommen plötzlich ein anderes Gesicht. Diese Janusköpfigkeit wird zum zentralen Angriffspunkt im Rahmen hybrider Bedrohungen bzw. ist es bereits geworden.
Angriffsmuster aus Krisenregionen zeigen im Rahmen hybrider Kriegsführung auch genau die Zielrichtung auf diese Kritischen Infrastrukturen, die wie bereits erwähnt, heute in Deutschland überwiegend in privater Hand sind. Bereits heute schon sind alle diese Sektoren auch in Deutschland täglich mehreren Tausend Angriffen im Cyber-Space ausgesetzt, wie den Berichten des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) regelmäßig zu entnehmen ist; zugegebenermaßen überwiegend kriminell bedingt, doch Spionage und das Austesten von Grenzen durch staatlich gesteuerte Stellen, was im Fall eines Falles gehen kann oder könnte, nehmen zu
Ebenfalls dramatisch sieht es mit Blick auf eine Verteidigungsbereitschaft und die Unterstützungsleistungen der Streitkräfte im Gesundheitswesen aus. Die weit fortgeschrittene Ökonomisierung des Gesundheitswesens hat dazu geführt, dass Krankenhäuser, Betten und medizinisches Personal massiv reduziert wurden. Vorhaltungen für den Katastrophenfall werden nicht finanziert und damit nicht getroffen und für den Verteidigungsfall schon gar nicht (mehr). Hilfskrankenhäuser, Schwesternhelferinnen- bzw. Pflegehelferprogramme wurden eingestellt und Sanitätspersonal in den Hilfsorganisationen ist heute vielfach mehrfach im Rahmen friedenszeitlicher Dienste verplant und stünde für die Unterstützung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr nur begrenzt zur Verfügung. Deutschland ist eine zentrale Logistikdrehscheibe in der NATO, ein Transitland für die verbündeten Streitkräfte, die auf die Unterstützung der zivilen Seite ebenso vital angewiesen sind wie die Bundeswehr, wenn sie ihrem Auftrag gerecht werden wollen. Doch wo sollen Tausende verwundete Soldatinnen und Soldaten, die aus potentiellen Kampfgebieten an den Bündnisgrenzen nach und durch Deutschland transportiert werden zur medizinischen Versorgung hin? Die Kapazitäten des derzeitigen Systems sind auf solche Lagen nicht eingerichtet. Ein Gesundheitsvorsorge- und Sicherstellungsgesetz, seit Jahrzehnten von Fachleuten gefordert, fehlt bis heute. Was geschieht, wenn zivile Krankenhäuser verwundete Soldaten aufnehmen und dafür Stationen mit Zivilisten räumen sollten?
Zusammenfassend kann man daher sagen: Es sind noch viele Antworten auf die drängenden Fragen zu geben.
Flankierend dazu wünschte ich mir ein politisches Bekenntnis der gesamten Bundesregierung, wie es 1972 schon einmal abgegeben wurde: „Die Bundesregierung unterstreicht …die politische Bedeutung der zivilen Verteidigung. Sie wird bestrebt sein, diese Bedeutung der Öffentlichkeit zu verdeutlichen und die finanziellen Mittel für die zivile Verteidigung…entsprechend ihrer Bedeutung zu verstärken und dabei insbesondere ein angemessenes Verhältnis zu den Aufwendungen für die militärische Verteidigung herzustellen.“ (Weißbuch zur zivilen Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland, 1972)
Autor und Bild: Christoph Unger, Präsident Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe