Zum o.g. Thema hatte die Sektion Ulm der „Gesellschaft für Sicherheitspolitik“ unter der Leitung von Oberstleutnant a.D. Wolfgang Goetze, Kooperationspartner u.a. der Kameradschaft Ulm-Dornstadt des „Blauer Bund e.V.“, am 03.06.2019 in die Rommelkaserne Dornstadt eingeladen.
Referent war Herr Brigadier Christian Platzer (AUT), seit 2017 Stellvertreter Chef des Stabes Operationen (DCOS Ops) beim Multinationalen Kommando Operative Führung Ulm (MNKdoOpFü).
Kurze Vorbemerkung zum MNKdoOpFü.
Das MNKdoOpFü wurde 2013 als Reaktion auf die internationalen Herausforderungen der aktuellen Krisen in Dienst gestellt.
Es ist inzwischen in der Lage, im Auftrag der Vereinten Nationen (VN), der NATO oder der EU die Planung und Durchführung von weltweiten Krisenmanagementeinsätzen zu übernehmen. Das Kommando kann kurzfristig als sog. Force Headquarters (FHQ) in Krisengebiete verlegt werden, um vor Ort einen Einsatz zu planen und zu führen.
Als Kernkompetenz wird „die Planung und Führung von zusammenwirkenden Land-, Luft- und Seestreitkräften, Sanitätspersonal und spezialisierten Kräften aus verschiedenen Nationen auch mit zivilen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren im Krisengebiet“ genannt (www.kommando.streitkraeftebasis.de).
Mehrere Nationen aus NATO und EU entsenden Offiziere und Unteroffiziere in dieses Kommando nach Ulm.
Österreich unterstützt als EU-Mitglied sowohl die Stabsarbeit im MNKdoOpFü als auch regelmäßig durch Truppen in VN- und EU-geforderten Einsätzen.
Zum Thema.
Neutralität Österreichs.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Österreich in vier Besatzungszonen und Wien in vier Sektoren aufgeteilt. Im Unterschied zu Deutschland erlangte der Donaustaat durch Staatsvertrag die staatliche Einheit und den Abzug aller Besatzungstruppen.
Durch das „Moskauer Memorandum“ vom 15.04.1955, welches nach einer Besprechung von Vertretern der sowjetischen und österreichischen Regierung verfasst wurde, hatte Österreich in Moskau versprochen, dass es nach Abschluss des Staatsvertrages (26.10.1955, Österreichischer Nationalfeiertag) eine „immerwährende Neutralität“ wahren wolle.
Österreich versicherte außerdem, dass es keinem Militärbündnis beitreten und keine militärischen Stützpunkte zulassen werde.
Brigadier Platzer unterstrich, dass das Moskauer Memorandum, welches Voraussetzung für das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) war, „kein völkerrechtlicher Vertrag“ war, die Neutralität „kein Verfassungsprinzip“ darstellt, dieses allerdings mit dem EU-Recht vereinbar ist.
Österreich ist innerhalb der EU ein zuverlässiger Befürworter der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (s.Artikel 42 (7) EUV;
Anmerkung des Verfassers:
Dieser Artikel schreibt im Falle eines bewaffneten Angriffes auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates vor, dass die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta), schulden. Art. 42 (7) EUV macht ferner klar, dass die Verpflichtungen und die Zusammenarbeit in diesem Bereich im Einklang mit den im Rahmen der NATO eingegangenen Verpflichtungen bleiben.
Die Berufung auf Art. 42, Absatz 7 EUV hat den Vorteil, dass auch an die Solidarität von Mitgliedsstaaten appelliert wird, die aber nicht Mitglieder der NATO sind, etwa Österreich, Irland, Schweden oder Finnland.
Österreich pflegt eine enge Zusammenarbeit mit der UNO, der OSZE und der NATO.
Mit Letzterer unterhält es eine „Partnership For Peace“.
Deshalb hat Brigadier Platzer auch mehrere Verwendungen innerhalb der NATO absolviert (z.B.1995 Command and General Staff Cource (CGSC) of the U.S. Army in Ft. Leavenworth, Kansas, 1998 Partnership Staff Element, AFNOTRH, Brunssum, NL, 2006 Head of the EU Cell at Shape (Liaison Officer between EUMS und SHAPE).
Bedrohungsszenarien
An Hand einer Grafik wurde anschaulich dargestellt, dass Österreich – insbesondere nach dem Verfall der Sowjetunion in den 1990-er Jahren – umgeben ist von Nationen, die der NATO, der EU (meist beiden) angehören bzw. Beitrittskandidaten zu den o.g. Bündnissen sind.
Mit Deutschland pflegt Österreich eine enge Zusammenarbeit.
„Was kann uns da noch passieren?“,
so die oft gestellte Frage.
Zu warnen sei jedoch z.B. vor
– Internationalem Terrorismus,
– der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen,
– regionalen und innerstaatlichen Konflikten,
– natürlichen und von Menschen verursachten Katastrophen,
– Angriffen auf die Sicherheit der IT-Systeme,
– Bedrohung der strategischen Infrastruktur,
– grenzüberschreitender Kriminalität,
– Energieressourcenproblemen,
– Ernährungs- und Klimaproblemen.
Auf all das sind angemessene Schutzmaßnahmen schnellst möglich zu treffen.
Da diese Bedrohungen nicht nur Österreich betreffen, ist eine noch bessere Zusammenarbeit mit allen Anrainerstaaten und der europäischen Nationen zwingend erforderlich.
Auftrag des Österreichischen Bundesheeres.
Im Artikel 9a des B-VG wird die „Umfassende Landesverteidigung“ (ULV) gefordert.
Hiernach ist u.a. die Unabhängigkeit nach außen und die Aufrechterhaltung und Verteidigung der Neutralität gefordert.
Die ULV umfasst die militärische, geistige, zivile und wirtschaftliche Landesverteidigung.
Jeder männliche Staatsbürger ist wehrpflichtig. Staatsbürgerinnen können freiwillig dienen.
Milizsystem.
Ein Bestandteil der militärischen Landesverteidigung ist das Milizsystem.
Es sind Männer und Frauen, die ihren Grundwehr- oder Ausbildungsdienst geleistet haben und in der Einsatzorganisation des Bundesheeres weiterhin eine Aufgabe übernehmen. Durch ihr militärisches Engagement abseits von Berufs- oder Sozialleben tragen sie wesentlich zur Verankerung der Streitkräfte in der österreichischen Gesellschaft bei. Viele Einsätze des Bundesheeres wären ohne Miliz nur schwer vorstellbar, zum Teil stellen Milizsoldaten dabei sogar den Großteil des Personals bei Auslandseinsätzen. Auch im Inland übernehmen Angehörige der Miliz Einsatzaufgaben, etwa bei Hilfseinsätzen (vgl. www.bundesheer.at/sk).
Es ist u.a. zuständig für
– den Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen und ihrer Handlungsfähigkeit sowie der
demokratischen Freiheit,
– die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Inneren,
– Hilfeleistungen bei Elementarereignissen,
– Aufgaben gem. B-VG.
Österreichische Soldaten können im Gegensatz zur Deutschen Bundeswehr grundsätzlich auch zur Unterstützung der Polizei bzw. zu Einsätzen im Inneren eingesetzt werden.
Landeshauptleute (Landeshauptmann oder Landeshauptfrau ist Vorsitzender einer Landesregierung) können das Militär nach eigener Lagebeurteilung anfordern und einsetzen. Allerdings sind sie danach verpflichtet, die Notwendigkeit nachzuweisen.
Rechtliche Grundlagen für internationale Einsätze des Österreichischen Bundesheeres.
Der Artikel 79, Absatz 1 B-GV regelt derartige Einsätze im Rahmen der Militärischen Landesverteidigung.
Das war z.B. 1956 in Ungarn oder 1991 in Jugoslawien der Fall.
Dazu gehören auch Assistenzeinsätze z.B. bei Hochwasserkatastrophen wie 2002 oder 2013.
Im Zuge der Sicherheitsstrategie hält Österreich mindestens 12.500 Soldaten bereit, davon sind 1.100 Soldaten inzwischen auf Dauer in internationalen Einsätzen.
Im Rahmen von Aufgaben der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU werden Truppen u.a. zu Kampfeinsätzen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffenden und sichernden Maßnahmen eingesetzt.
So beteiligt sich Österreich auch gemeinsam mit Deutschland an EU-Battle Groups.
Das österreichische Bundesheer will und muss nach Auffassung des Referenten international vertreten sein.
Im Zuge der sich anschließenden lebhaften Diskussion wurden noch weitere Detailfragen gestellt und freimütig und umfassend beantwortet.
a. Österreich hält an der Allgemeinen Wehrpflicht fest.
Allerdings wurde sie aus politischen Gründen auf 6 Monate reduziert. Die kurze Ausbildungszeit und Verweildauer stellt die Truppe vor Herausforderungen hinsichtlich der Verwendbarkeit und Gewinnung von Längerdienern. Die Bereitschaft, sich anschließend als Reservist in den Dienst der Miliz zu stellen, ist regional unterschiedlich. Grundsätzlich ist auch in Österreich, wie in anderen europäischen Ländern, eine Abnahme der Wehrfreudigkeit festzustellen. Die physische Konstitution der Wehrpflichtigen hat im Vergleich zu früheren Zeiten abgenommen, so dass die Musterungskriterien für die Einstufung von Tauglichkeitsgraden den militärischen Anforderungen nicht mehr immer entsprechen.
Neben der Wehrpflicht besteht auch die Pflicht zum Ersatzdienst (Zivildienst).
b. Das Budget für das Bundesheer wurde nach 1990 aufgrund politischer Lagebeurteilung schrittweise gekürzt. Auch das ist in anderen europäischen Ländern ähnlich geschehen.
Gemessen an dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist Österreich von einst 1,2 % auf 0,5 % abgefallen.
Der Investitionsbedarf zur Erfüllung des Auftrages gemäß B-VG national wie international muss nach militärischer Beurteilung korrigiert werden.
Bis zum Jahre 2022 besteht ein Bedarf bei
– geschützter Mobilität,
– allgemeiner Mobilität,
– der Domäne Luft,
– der Ausrüstung der Soldaten,
– der Sanitätsausrüstung,
– der Digitalisierung,
– dem mechanisierten Kampf
mit einem Kostenvolumen von 3 Milliarden Euro.
c. Ob der Begriff der uneingeschränkten Neutralität noch zeitgemäß ist, muss seitens der Politik geprüft werden. Der Begriff „Neutralität“ kann angesichts der aktuellen Krisenlage als „historischer Wert“ betrachtet werden und wird z.T. sogar als „Zeichen mangelnder Solidarität“ angesehen.
Zusammenfassend regte der Referent unter dem Ruf „Europäisieren wir uns“ an, die europäischen Verteidigungsanstrengungen zu zentralisieren.
In der Summe der Truppen der einzelnen EU-Staaten hat Europa heute, auch nach den Reduzierungen seit 1990, zu viele Soldaten.
Diese zu vielen Soldaten bringen zu wenig Leistung und sind zu teuer.
Die EU könnte international mehr leisten. Dazu wäre die viel diskutierte Standardisierung der Ausrüstung, der militärischen Führungs- und Informationssysteme, der Führungsverfahren (z.B. NATO-STANAG), der Logistik (Brigadier Platzer hat auch etliche Jahre auf dem Logistiksektor gearbeitet) dringend und verzugslos erforderlich.
Diese Vortragsveranstaltung war neben dem sehr guten Informationsgehalt, der erfrischend unterhaltsamen Vortragsweise und der offenen Beantwortung gestellter Fragen ein Erlebnis.
Autor: Karl-Dieter Karstens, Oberstleutnant a.D.
Quellen:
a. eigene Mitschriebe,
b. z.T. Powerpoint-Folien des Vortragenden
c. s. Hinweise im Text