Dr_Hans_Christoph_Atzpodien

Beitrag der Wirtschaft zur Umsetzung der Agenda Rüstung

Die Agenda Rüstung, die von der früheren Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Jahr 2014 initiiert wurde, fand in ihrer generellen Zielsetzung von Anfang an die Unterstützung von Seiten der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Traditionell war die Vergabepraxis der Bundeswehr durch viele alte „Einkaufszöpfe“ und lange Entscheidungsprozesse geprägt, bei Großvorhaben nicht zuletzt auch durch den Projektablauf selbst und die Neigung des Bestellers, nach Vertragsschluss bei den technischen Anforderungen immer wieder nachzulegen. Dies hatte in etlichen Programmen negative Auswirkungen auf den Abarbeitungs-Ablauf, die teilweise noch bis heute nachwirken. Insofern war der Aufbau eines modernisierten Rüstungsmanagements auf Seiten des BMVg immer auch im Interesse der Lieferanten-Seite. Allerdings fehlt es aus Industrie-Sicht bis heute an etlichen Ecken und Enden an einer konsequenten Umsetzung der mit der Agenda Rüstung verfolgten Modernisierungsabsicht. 

Bild: Autor Dr. Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e.V.

Zur Förderung dieser Zielsetzung haben wir als Industrieverband schon seit Längerem fünf einfache Empfehlungen ausgesprochen, die es hier kurz zu beschreiben gilt. Sie bilden aus unserer Sicht nach wie vor den entscheidenden Beitrag zur Umsetzung der Agenda Rüstung:

Empfehlung Nr. 1: Weniger kleinteilig vergeben und alle Möglichkeiten des Vergaberechts zum Wohl der Bedarfsträger kreativer anwenden

Mit der EU-Direktive 2009/81/EG, die anschließend in deutsches Recht übernommen wurde, wurde die Grundlage für grenzüberschreitende, europaweite Ausschreibungen und einen entsprechenden Wettbewerb auch beim Einkauf von Verteidigungsgütern gelegt. Dabei wurden jedoch einige Ausnahmen – teilweise zwingend, teilweise fakultativ – berücksichtigt. Wenn keine der zwingenden Ausnahmen greift (wie z.B. bei bi- oder multinationalen Kooperationsvorhaben), ist es möglich, insbesondere aus Gründen der nationalen Sicherheit wegen der Betroffenheit wesentlicher Sicherheitsinteressen (Art. 346 AEUV) die Beschaffung auf einen nationalen Umgriff zu beschränken. Diese Möglichkeit wurde und wird ausweislich der zwischenzeitlichen Berichte der EU-Kommission von einigen EU-Ländern recht extensiv genutzt. Deutschland hat im Sinne eines europäischen Musterschülers hiervon zunächst nur sehr wenig Gebrauch gemacht. Erst in diesem Jahr wurde mit dem Gesetz zur beschleunigten Beschaffung im Bereich Verteidigung und Sicherheit eine offizielle Abkehr von dieser restriktiven Linie eingeläutet, allerdings nur in Bezug auf sogenannte nationale Schlüsseltechnologien, wie sie im überarbeiteten Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie vom 12.02.2020 definiert werden.

Aber auch über Art. 346 AEUV hinaus gibt es legale Möglichkeiten, das bestehende Vergaberecht für Ausrüstungsgüter der Bundeswehr so anzuwenden, dass am Ende unsere Soldatinnen und Soldaten ihre Ausrüstung schneller bekommen, als dies bei einem Verfahren nach „Schema F“ der Fall wäre. Zu denken ist hier an die Bündelung von Einzelvergaben zu größeren und damit wirtschaftlichen Losen, an Rahmenverträge mit sachgerechteren und längeren Laufzeiten, an die Fortsetzung bestehender Serien (wenn auch mit Modifikationen) und an Ausnahmen aufgrund nachgewiesener besonderer Dringlichkeit.

Ein derartiges Vorgehen setzt aber den durchgängigen Willen der Beschaffungsverwaltung voraus, solche Wege unter Nutzung der Ausnahme- und Gestaltungsmöglichkeiten zu beschreiten und hinreichende Begründungen in die erforderliche Dokumentation aufzunehmen, um unnötige Nachprüfungsverfahren zu vermeiden. Das häufig zu hörende Gegenargument, man begebe sich hier mangels ausreichenden Wettbewerbs zu sehr in die Hände bestimmter Hersteller, kann schon deshalb nicht überzeugen, weil im Bereich der Beschaffung von Rüstungsgütern seit mehr als 60 Jahren das sog. öffentliche Preisrecht gilt, dass dem öffentlichen Auftraggeber jede gewünschte Transparenz im Hinblick auf die Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung gewährt.

Empfehlung Nr. 2: Alle Bundeswehr-Vertragsbedingungen für Vergaben unter 25 Mio. € radikal standardisieren und dabei die Inhalte mit der Industrie im Sinne ausgewogener und beiderseits akzeptabler Musterbedingungen aushandeln

Das Beschaffungsamt der Bundeswehr schließt nach eigenem Bekunden rd. 12.000 Verträge pro Jahr, 94 % davon mit einem Einzelvolumen unter 500 T€ (brutto). Bei diesen rund 11.000 Verträgen/Jahr werden jeweils neben vorformulierten Mustervertragsbedingungen zum Beispiel ABBV und die ZVB/BMVg aus dem Jahr 2000/2001 zugrunde gelegt, die als Spezialvorschriften zusätzlich zur VOL/B zur Anwendung kommen. Diese Vertragsbedingungen enthalten u.a. keine angemessenen Regelungen zur Deckelung der Gesamthaftung des Lieferanten und verdienen damit nicht das Prädikat der Ausgewogenheit.

Der Einstieg in die Aushandlung ausgewogener Vertragsbedingungen wurde in den Jahren 2018 und 2019 zwischen der Bundeswehr-Beschaffungsverwaltung und dem BDSV bzw. seinen Mitgliedshäusern anhand des Vertragsmusters „B070“ gemacht. Hierbei handelt es sich um eine Klausel-Sammlung von Bundeswehr-Einkaufsbedingungen, die spezifisch nur für den Vergabebereich mit Volumina zwischen 500 T€ und 25 Mio. € gedacht sind. Nach mehr als 12-monatiger Verhandlung konnte hierzu im Dezember 2019 ein beiderseits akzeptables Ergebnis konstatiert werden. Umso verwunderlicher war es aus Industrie-Sicht, dass die Beschaffungsverwaltung im Jahr 2020 dennoch gerade im sensiblen Bereich der Haftungsbegrenzungen eine von der gefundenen Einigung abweichende Handhabung praktiziert hat. Die hoffentlich klärenden Gespräche dazu dauern derzeit noch an.

Beide Seiten – Bundeswehr-Beschaffung und Industrie – wissen, dass sie bei einvernehmlich ausgehandelten und entsprechend standardmäßig ausgehandelten Vertragsbedingen bei niedrig-wertigen Beschaffungsvolumina eine Menge an zeitlichem, personellem und auch Kosten-Aufwand einsparen können. Gemessen daran und an der immer wieder beklagten Personalknappheit im Bereich der Bundeswehr-Beschaffung erstaunt es über die Jahre immer wieder, wie lange es braucht, um einem einmal erreichten, gemeinsamen Verständnis und Ergebnis in der Umsetzung zum Durchbruch zu verhelfen. Dieser Durchbruch ist aus Industrie-Sicht bei der Standardisierung der Vertragsbedingungen leider noch nicht erreicht, was die Zielerreichung der Agenda Rüstung in weite Ferne zu rücken scheint.

Empfehlung Nr. 3: Bei Großvorhaben die Kreativität der Industrie besser nutzen durch funktionale Leistungsbeschreibung im Vergabeverfahren (wettbe-werblicher Dialog) und damit individualisierte „Goldrand-Lösungen“ vermeiden

Der CPM 2018 (CPM = Customer Product Management) sieht als Regelprozess vor, dass bei Beschaffungsvorhaben der Bundeswehr zunächst die erforderlichen Fähigkeitsanforderungen an neues Gerät definiert werden, dann eine Marktsichtung durchgeführt und schließlich das ausgewählte Gerät auch tatsächlich – möglichst im Wettbewerb – beschafft wird. Bei Großvorhaben passt dieser Prozess in der Regel nicht, weil Marktsichtung und Vergabe nicht wirklich getrennt werden können. Hier wird bislang üblicherweise ein Verhandlungsverfahren angewandt, bei dem die Bundeswehr-Beschaffung zunächst das zu beauftragende Gerät spezifiziert (abgeleitet aus den Fähigkeitsanforderungen) und diese Spezifikation sodann an einige dafür präqualifizierte Bieter gibt. Diese sind dann in der Regel gehalten, als erstes einen verbindlichen Preis für die von der Beschaffungsverwaltung spezifizierte Leistung zuzusichern, was im Einzelfall einer objektiven Unmöglichkeit nahekommen kann.

Ursprüngliche Intention des CPM-Prozesses war es, neben der Beschleunigung des Beschaffungsprozesses durch Reduzierung der einzelnen Phasen und durch klare Zuordnung der Verantwortlichkeiten im Zuge des Beschaffungsvorgangs die Fähigkeitserwartungen der Bundeswehr und die Möglichkeiten und Angebote des Marktes im Sinne einer iterativen Kosten-Nutzen-Optimierung aneinander „abzuschleifen“, das heißt ein Optimum an Nutzen bei möglichst geringen Beschaffungskosten zu erreichen. Dies gelingt aber nicht, wenn die maßgebliche Messlatte die von der Beschaffungsverwaltung entwickelte Eigenspezifikation des zu beschaffenden Geräts ist. Dann kommt es unweigerlich zu Budgetüberschreitungen, wie es gerade bei einem jüngst zur Vergabe gekommenen Großvorhaben passiert ist.

Bei anderen, auch staatlichen Beschaffungsstellen hat sich längst die funktionale Forderungs- und Leistungsbeschreibung in der Anfrage- und Ausschreibungspraxis eingebürgert. Diese überlässt es den aufgeforderten industriellen Anbietern, mittels ihrer Erfahrung und Kreativität entsprechende Vorschläge zu unterbreiten, die dann im Wege eines wettbewerblichen Dialoges Schritt für Schritt zu einer Auslese unter den Bietern führen, welche wiederum am Ende auf Basis der letztgültigen Spezifikation ein finales Angebot abgeben. Die Randbedingungen des wettbewerblichen Dialoges sind in § 18 der Vergabeverordnung und genauer in § 13 VSVgV beschrieben. Leider ist dadurch festgelegt, dass der wettbewerbliche Dialog nur für solche besonders komplexen Vorhaben gedacht ist, bei denen die Vergabestelle nicht ausreichend in der Lage ist, die technischen Spezifikationen zur Erfüllung ihrer zuvor definierten Fähigkeitsanforderungen zu beschreiben. Dieser Fall ist nach dem Selbstverständnis der Bundeswehr-Beschaffung nahezu ausgeschlossen, so dass der wettbewerbliche Dialog in der Bundeswehr schon definitorisch so gut wie gar nicht zur Anwendung kommt. Für die zügige und effiziente Beschaffung von Großgerät ist dies nicht zuträglich. Eine weitere Hürde sind aber auch die jeweils sehr speziellen deutschen Entwurfs- und Bau-Normen, die es nahezu unmöglich machen, dass sich die Bundeswehr mit Gerät versorgt, welches marktgängig und für andere europäische Streitkräfte gut genug ist.

Empfehlung Nr. 4: Verträge so schreiben, dass in ihnen alles abschließend geregelt wird, was geregelt werden muss, damit man den Vertrag während der gesamten Abwicklung möglichst nicht mehr zur Hand nehmen muss

Dies klingt eigentlich selbstverständlich, ist es aber nicht. Allein wegen der oft hohen Komplexität der Materie fällt es schwer, alle Eventualitäten und zum Beispiel alle mitgeltenden Vorschriften sauber zu erfassen und bereits im Angebot und bei Vertragsschluss in den Vertrag einzubinden. Die Vertragserfüllung kann nur auf dem Stand der Technik und der geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung erfolgen. Unvorhersehbare, aber erforderliche Änderungen der technischen Leistungsperimeter, der Konfiguration oder der rechtlichen Rahmenbedingungen müssen durch ein im Vertrag verankertes Änderungsverfahren mit möglichst kurzen Entscheidungsprozessen Berücksichtigung finden, in dem Zeitplan, Kosten und Preis entsprechend angepasst werden,

Empfehlung Nr. 5: Instandhaltung von Großgerät nicht „insourcen“, sondern „outsourcen“ (und zwar im Wege sog. „Performance-based Contracts“, wie sie mit ausländischen Kunden schon seit Langem funktionieren)

Das Thema sog. „Performance-based Contracts“ ist auch in der Bundeswehr kein neues Thema. Es gibt sogar einige Bereiche, in denen solche Verträge bereits zur Anwendung kommen (besonders bei der Instandhaltung fliegenden Geräts, wie zum Beispiel Eurofighter und Hubschrauber NH 90).

Vor diesem Hintergrund wirbt die Industrie dafür, die Erfahrungen aus bestehenden Verträgen dieser Art zu nutzen und den Kreis des Geräts, das zur Instandhaltung in die Hände der Hersteller gelegt wird, mutig zu erweitern. Auf Seiten der Industrie bestehen ausreichende Erfahrungen darüber, was für die einzelnen Phasen der Instandhaltung – deren Übernahme, deren Durchführung und deren Übergabe an einen Dritten bei Vertragsende – zu regeln ist. Hinzu kommt insbesondere aus Verträgen mit ausländischen Kunden die gewonnene Erfahrung, dass aufgrund solcher Gestaltungen die Verfügbarkeitswerte des Geräts in der Regel höher liegen als dies innerhalb der Bundeswehr derzeit der Fall ist.

Zusammenfassend sei noch einmal hervorgehoben, dass sich bei allen diesen Gestaltungen die Bundeswehr-Beschaffung und die ihr gegenüberstehende Industrie in Partnerschaft, Transparenz und gegenseitiger Wertschätzung begegnen können, ohne es dabei an wirtschaftlicher Effizienz für beide Seiten fehlen zu lassen. Über allem muss das Interesse der Soldatinnen und Soldaten stehen, von ihrer Beschaffungsverwaltung und der dahinterstehenden Industrie im Sinne der Agenda Rüstung zeitgerecht mit dem besten, für sie verfügbaren Material ausgestattet zu werden.

 

Autor und Bild: Dr. Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e.V. (BDSV), Berlin