Wenn im Jahre 2023 die letzten sogenannten IT-Alt-Systeme der Bundeswehr aus der Nutzung gehen, steht für die Standard-Anwendungssoftware-Produktfamilien (SASPF) der Bundeswehr der nächste fundamentale Weiterentwicklungsschritt an. Das Ziel heißt: Überführung wesentlicher Komponenten nach SAP S/4HANA.
Was ist S/4HANA?
Der Softwarekonzern SAP Societas Europaea (SE) hat im Jahr 2015 unter der Bezeichnung „S/4HANA“ die vierte Generation seines Betriebsführungssystems Enterprise Resources Planning (ERP) auf den Markt gebracht.
Das „S“ steht für „simple“ und somit für die Vereinfachung der gesamten Datenarchitektur durch Nutzung der In-Memory-Datenbanktechnologie HANA („High Performance Analytic Appliance“) sowie die verbesserte Nutzung durch moderne, personalisierte Oberflächen basierend auf der Technologie SAP Fiori.
S/4HANA ist allerdings mehr als nur der Nachfolger des bisherigen Systems und birgt enormes Optimierungspotenzial in technischer, prozessualer und organisatorischer Hinsicht.
- Das technische Herzstück von S/4HANA, der so genannte Core, besteht aus branchenübergreifenden Funktionalitäten, mit denen die heute in Wirtschaft und Wissenschaft üblichen Leistungsprozesse abgebildet werden. Er bietet einen offenen Standard, der auf individuelle Nutzerbedürfnisse erweitert und durch aufgabenspezifische Applikationen ergänzt werden kann. Auf diese Weise können die mit der Einführung von SASPF für den Kunden Bundeswehr erstellten, spezifischen Programmanteile, die auch künftig von Bedeutung sind, nach erfolgreicher Kompatibilitätsprüfung in S/4HANA integriert werden. Für den Nutzer bleiben bekannte und bewährte Arbeitsroutinen erhalten.
- S/4HANA umfasst viele neue Funktionen, die die Art und Weise der Leistungserbringung nachhaltig verändern. Prozesse werden verschlankt, einzelne Prozessschritte können überflüssig werden und neue entstehen. Die Einführung von S/4HANA bietet somit die Chance, das bestehende Prozessmodell über alle Hauptprozesse zu optimieren und für die zukünftige Leistungserbringung fit zu machen. Die von der Bundeswehr seit Jahren angestrebte Prozessorientierung erlebt hierdurch einen deutlichen Push, da es zu einer intensiven und regelmäßigen Prüfung und Anpassung der Prozessmodelle kommen wird, die zu einer höheren Transparenz, größeren Realitätsnähe und verbesserten Steuerbarkeit der Prozessketten entlang von Zielen und Kennzahlen führen.
- Der Einstieg in die integrative IT-Architektur von SASPF umfasste von Anfang an auch die Chance zur Optimierung der Strukturen der Bundeswehr. SASPF war als Organisationsprojekt angelegt und sollte mehr als nur neue IT-Funktionalitäten bringen. Die – gemäß der vom damaligen Staatssekretär Hoofe herausgegebenen „Agenda Prozessorientierung“ – bis zum Jahr 2025 anvisierte Weiterentwicklung des Geschäftsbereichs BMVg zu einer prozessorientierten Organisation wurde allerdings bisher nicht umfassend umgesetzt. So entstanden in Teilen Strukturen, in welchen Vorgesetzten zusätzliche Prozessrollen übertragen wurden, ohne sie mit der erforderlichen Kompetenz auszustatten, mit der sie ihre Prozessaufgaben gegenüber Rollenträgern innerhalb und außerhalb ihres truppendienstlichen Verantwortungsbereichs durchsetzen können.
Der neue Standard für die Bundeswehr heißt „Defence & Security“
Für Nutzer aus dem Verteidigungs- und Sicherheitssegment wird der an die Bedürfnisse von Industriebetrieben angelehnte, branchenübergreifende Standardfunktionsumfang von S/4HANA um die Branchenlösung „Defense & Security (D&S)“ erweitert.
Im Rahmen einer multinationalen SAP-Nutzergruppe, der sogenannten Defence Interest Group (DEIG), identifizieren derzeit 17 Länder (Australien, Österreich, Kanada, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Israel, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Polen, Singapur, Schweden, Schweiz, Türkei und USA) sowie die NATO Supply and Procurement Agency (NSPA) ihren spezifischen Funktionsbedarf für D&S, stimmen gemeinsame Interessen ab und beauftragen die SAP SE mit der Erstellung eines Lösungsdesigns.
D&S umfasst derzeit folgende fünf Add-on-Pakete, die automatisch in die technische Weiterentwicklung einbezogen werden:
- Explosives Management: multinationaler Standard zur Munitionsbewirtschaftung bis auf Ebene Lagerhaus bzw. Teillager Munition;
- New Force Element: multinationaler Standard zur Abbildung der Organisationsstrukturen für alle Betriebsmodi;
- Disconnected Operations: multinationaler Standard zur autarkiefähigen Nutzung von SASPF-Funktionalitäten für Verbände, Strukturelemente und einzelne Rollenträger im Offline-Betrieb;
- Interoperability: multinationaler Standard für den automatisierten, bidirektionalen Transfer von Daten zwischen S/4HANA und IT-Systemen Dritter;
- Roles & Authorizations: multinationaler Standard zur systemgestützten Zuweisung von Funktionalitäten über Rollen- und Berechtigungen sowie Sicherstellung des Schutzbedürfnisses im Rahmen D&S.
Die Realisierung dieser Zusatzfunktionen wird sämtlich von der SAP SE finanziert. Darüberhinausgehende Entwicklungen sind unter finanzieller Beteiligung der bedarfstragenden Nationen auch künftig möglich. Für die Teilhabe der Bundeswehr werden die Möglichkeiten, hierfür die entsprechende Vorsorge im Bundeshaushalt zu treffen, derzeit geprüft.
Neue Forderungen an die logistische Leistungserbringung
Form und Inhalt der logistischen Leistungen richten sich konsequent am Fähigkeitsprofil der Bundeswehr (FPBw) aus. Danach wird das Zusammenspiel der unterschiedlichen Akteure auf verschiedenen Erbringungsebenen im sogenannten Logistischen System der Bundeswehr (LogSysBw) komplexer. Dies wird am neuen „Haus der Logistik“ deutlich.
Der logistische Beitrag ist teilweise parallel in einem Wirkspektrum aus Komponenten der Dimensionen Land, Luft/Weltraum, See und Cyber/IT in Szenaren des Betriebs Inland, in einsatzgleichen Verpflichtungen, im internationalen Krisenmanagement (IKM) und vermehrt im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) zu erbringen. Dieses weite Betätigungsfeld erfordert neben der Nutzung der bundeswehreigenen, organischen Kräfte eine stärkere Abstützung auf Akteure verbündeter Streitkräfte und der gewerblichen Wirtschaft. Die für die einzelnen Waffensysteme erforderliche logistische Unterstützung wird differenzierter, mehrschichtiger und insgesamt komplexer.
Das LogSysBw ist gefordert, alle Akteure, alle Systeme und alle Verfahren in einem integrativen, funktionalen System zusammenzubringen und damit ein ganzheitliches logistisches Gefüge zu schaffen und zu erhalten, das mit deutlichen Vorgaben, klaren Zuständigkeiten und eindeutigen Schnittstellen redundanzfrei funktioniert.
Das wesentliche Gestaltungsmerkmal für das Funktionieren dieses immer komplexer werdenden LogSysBw sind bestmöglich standardisierte Prozesse, die den Rollenträgern in allen Bereichen und auf allen Ebenen größtmögliches Vertrauen in den Wert des eigenen Beitrags und hohe Handlungssicherheit bei der Leistungserbringung geben.
Prozesse sind der Kernfaktor einer funktionierenden IT-Unterstützung. Sie müssen so modelliert sein, dass sie einen größtmöglichen Standard bieten und zugleich die individuellen Anforderungen der Akteure des LogSysBw in allen Dimensionen und den verschiedenen Einsatzszenarien abdecken.
Eine wesentliche Rolle spielen künftig folgende Fähigkeiten:
- Strategische, operative und taktische Planung und Simulation
- Prognose von Kräften und Mitteln
- Prognose des Ausfallverhaltens von Waffensystemen
- Bedarfsprognosen für Ersatz- und Austauschteile, Betriebsstoffe und sonstige Versorgungsgüter
- Analyse vergangener Leistungsdaten
- Autarke Betriebsführung
- Ganzheitliche Transparenz und Steuerung der Supply Chain
- Automatisierter Transfer von Stamm- und Bewegungsdaten zu/von IT-Systemen Dritter
Neue Funktionalitäten unter S/4HANA D&S
Mit S/4HANA D&S werden die funktionalen Forderungen der Logistik an die künftige IT-Unterstützung durch eine verbesserte Bedarfsorientierung, höhere Nutzerzentrierung und Zukunftsfähigkeit erfüllt.
Bedarfsorientierung
Prozesse und Waffensysteme erzeugen große Mengen an Daten, sogenannte Big Data, die für die Überwachung, Steuerung und Optimierung der Leistungserbringung in der Bundeswehr von großer Bedeutung und eine bisher wenig genutzte Ressource sind.
Die Nutzung der In-Memory-Technologie auf der HANA-Datenbank beschleunigt die Datenverarbeitung und damit das Antwort-Zeit-Verhalten deutlich. Mit der SAP Analytics Cloud sind künftig Big-Data-Analysen und Lagebilder für den Einzelfall in Echtzeit abbildbar. Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz (KI) führen zum maschinellen Lernen und liefern Prognosen über künftige Materialverbräuche und die optimale Wartungs- und Instandhaltungsplanung sowie die Simulation logistischer und operativer Prozesse. Die Technologie Internet of Things (IoT) liefert künftig aktuelle Sensordaten aus dem operativen Betrieb von Systemen, die über SAP Leonardo ausgewertet und für das Gefechtsfeldmanagement einer laufenden Operation oder zur Koordination des Aufmarschs von Kräften und Mitteln im Rahmen LV/BV genutzt werden können.
Die Disposition von Transporten einschließlich der Sendungsverfolgung von Frachtgut wird über den SAP Transportation Manager möglich, der die Stammdaten über SAP Global Track and Trace mit Geoinformationsdaten verknüpft und sie über das SAP Logistics Business Network mit Versendern, Spediteuren, Transporteuren und Herstellern teilt; eine Funktionalität, die zivile Transportfirmen bereits heute intensiv nutzen.
SAP Integrated Business Planning unterstützt künftig mit dem Steuerungscockpit SAP Supply Chain Control Tower ein aktives Supply Chain Management über die gesamte Wertschöpfungskette. Darin enthalten sind auch Funktionalitäten zur strategischen Planung von logistischen Bedarfen mittels Prognosealgorithmen auf Basis von historischen Verbräuchen und Bedarfen.
Nach dem bereits begonnenen Einstieg in die reaktive Datenpflege wird mit SAP Master Data Governance die Möglichkeit bestehen, Herstellerdaten vor Übernahme nach S/4HANA auf Konsistenz zu prüfen und auf diese Weise einen entscheidenden Schritt hin zur Verbesserung der Datenqualität in Form eines aktiven Datenmanagements zu machen.
SAP Asset Intelligence Management bietet die Möglichkeit des automatisierten Datentransfers zwischen SASPF und Systemen von Dienstleistern. Auf diese Weise arbeiten alle Player auf demselben Datenstand. Funktionalitäten wie der Digitale Zwilling unterstützen ein effizientes Bauzustandsmanagement am Erbringungsort und verkürzen die Durchlaufzeiten der Instandhaltung durch Automatisierung administrativer Arbeitsvorgänge.
Mit der SAP Digital Manufacturing Cloud wird die in der Bundeswehr schon erfolgreich erprobte Additive Fertigung von Material serienreif. SAP SE bietet verschiedene Skalierungsmöglichkeiten für die Implementierung des 3D-Drucks in der Fläche und hat diese unter Nutzung des Moduls SAP Production Planning und Decentral Manufacturing in S/4HANA integriert.
Nutzerzentrierung
Der logistische Akteur steht im Mittelpunkt von S/4HANA.
Er erhält die zur Erbringung seines Beitrags erforderliche Transparenz über die gesamte Prozesskette. Auf den jeweiligen Nutzer zugeschnittene Applikationen und moderne Nutzeroberflächen ermöglichen die intuitive Bedienung sowie die effektive und effiziente Datenverarbeitung. Individuell anpassbare Einstellungen ermöglichen das auf die Rolle zugeschnittene Priorisieren der Tagesaktivitäten und die exakte Analyse der Wirkung zur Optimierung der eigenen Leistungserbringung.
Zukunftsfähigkeit:
Der Einstieg in die Cloud-Technologie sowie regelmäßige S/4HANA-Programmupdates sichern der Logistik den Sprung auf die Technologiewelle und die dauerhafte Teilhabe am technologischen Fortschritt.
Fazit
Die Bedeutung von SAP S/4HANA für die logistische Leistungserbringung der Bundeswehr ist enorm.
SAP S/4HANA erfüllt die Forderungen an eine moderne IT auf ideale Weise und wird auch den Anforderungen der Streitkräfte an die optimierte Leistungserbringung im gesamten Wirkspektrum gerecht.
Mit der Branchenerweiterung D&S werden neue Technologien und Funktionen verfügbar, die die Leistungserbringung im LogSysBw grundsätzlich verändern, bestmöglich automatisieren und den Verbleib auf der Welle des technologischen Fortschritts sichern.
Autor: Oberst i.G. Volker von dem Bach, Gruppenleiter Grundlagen Logistik und Beauftragter des Hauptprozessmanagers Logistik im Logistikkommando der Bundeswehr