Die Allianz im Umbruch – Eine Lagebeschreibung aus dem NATO Hauptquartier

Im vergangenen Jahr hat sich die NATO äußerlich verändert. Wir sind mit dem Hauptquartier umgezogen. Seit einem guten Jahr sind wir schon im neuen Gebäude. Hier ist alles offen, modern, man begegnet sich auf den Fluren, der großen Agora in der Mitte des Gebäudes. Aber begegnen wir uns auch in unseren Auffassungen? Verändert sich die NATO auch in den Strukturen, Prozessen, ihrer Strategie?

Die Allianz ist eine Allianz im Umbruch. Bei dem Gipfel in Brüssel im Sommer 2018 wurde dies besonders deutlich. Übrig bleibt bis heute, dass Deutschland seine Rolle in der Mitte nach Meinung einiger Akteure nicht ausreichend wahrnimmt. Wir zahlen vermeintlich nicht genug. Wir sind irgendwie mittendrin, aber nicht bei allem dabei.

Das wohl bedeutendste Dokument aus dem Gipfel ist die Readiness-Initiative. Unter dem Schlagwort 4 mal 30 oder besser 30/30/30 Bataillone, fliegende Staffeln, Schiffe verfügbar in 30 Tagen geht es um die Erhöhung der Einsatzbereitschaft und die Übernahme von Lasten. Inzwischen haben die Alliierten ihre Beiträge zu dieser Initiative eingemeldet. Deutschland ist ganz vorne mit dabei. Rechtzeitig zum Leaders Meeting kann dies eine Erfolgsgeschichte sein.

Zugleich wird in diesen Tagen der Umbruch wieder spürbar. Rund um das Außenministertreffen im November, dem Leaders Meeting mit den Staats- und Regierungschefs der Allianz im Dezember in London und dem aufrüttelnden Interview des französischen Staatspräsidenten in einer britischen Zeitschrift, in der er den Hirntod der Allianz konstatierte, wird die Zukunft der NATO diskutiert.

Und das alles in einer Zeit wo die Allianz vor Veränderungen steht. In Zeiten, in denen sich die Wahrnehmung der Rolle Russlands in den vergangenen Jahren stark verändert hat. Nach 2014, der Ost-Ukraine und der Krim, aber auch nach dem Fall Skripal in Großbritannien und dem Ausspähen der OPCW in Den Haag reagieren viele Alliierte nicht nur gereizt auf Russland, sondern sehen in Russland die eine dominierende Herausforderung.

Russland als potentieller Aggressor, Russland als Gegner, Russland als Bedrohung ist alltäglich Gegenstand in den Diskussionen im NATO Hauptquartier. Dabei ist das Bedrohungsempfinden etlicher Alliierter tief emotional und für die jungen Mitgliedsstaaten tief existenziell. Das Gleiche gilt für die Frage, wie man Russland begegnen soll, im Frieden, in der Krise und im Krieg. Sind wir mit Russland überhaupt noch im Frieden oder stattdessen zumindest in einer aktiven Wettbewerbsphase, in der jeden Tag weit unterhalb der Schwelle eines Artikel 5 Auseinandersetzungen stattfinden.

In den letzten zehn Jahren hat sich das sicherheitspolitische Umfeld mit und ohne Russland, wegen oder gegen Russland verändert. Internationaler Terrorismus wird als Herausforderung gesehen, die Alliierte unmittelbar bedroht, Regionen in der Allianz destabilisieren könnte, Sekundäreffekte auf die territoriale Integrität ebenso, wie auf die innere Stabilität von Mitgliedsstaaten hat.

Wir sind konfrontiert mit Verletzungen internationalen Normen, wie auf der Krim und in der Ost-Ukraine, an dem nicht Halt machen vor Grenzen, Aktionen mit militärischen Mitteln und nicht-militärischen Mitteln, sich dazu bekennend oder auch nicht.

Migrationsströme und die daraus resultierenden innenpolitischen Instabilitäten, Verschiebungen und Zerwürfnisse in Gesellschaften und politischen Landschaften beschreiben den Zustand in einigen Ländern. Einzelne Alliierte werden nicht müde, Migration als die große sicherheitspolitische Herausforderung zu benennen. Daraus folgen auch unterschiedliche Auffassungen zum Einsatz von Streitkräften im Inneren, der heute der Normalfall in vielen Ländern ist.

Die Folgen der Finanzkrise haben die Schere zwischen Arm und Reich größer werden lassen. Zurückgehende Ressourcen, Diskussionen um deren Verwendung, so auch das Einhalten des 2 %-Ziels für die Verteidigungshaushalte, haben das sicherheitspolitische Umfeld verändert, bestimmen heute die Diskussion.

So driftet die Allianz ein Stück weit auseinander. Es fehlt das vereinigende Ziel. Und es fehlt die Kohäsion, sich auf das eine große Ziel auszurichten. Was ist wirklich eine Bedrohung für die Mitgliedstaaten? Aus welcher Richtung schießt der Feind. Sind wir vorbereitet, alarmiert, resilient oder empfinden wir gar keine Bedrohungen in unseren Gesellschaften. Ist die kleinste Dysfunktionalität vielleicht Folge eines Cyberangriffes? Engagieren wir uns zu wenig? Leben wir auf Kosten der anderen? Was sind wir bereit zu geben, zu investieren? Wofür stehen eigentlich die nationalen Sicherheitspolitiken? Lastenteilung und Bedrohungsperzeptionen sind sehr unterschiedlich.

Einer der wesentlichen Gründe für den Aufstieg der NATO zur erfolgreichsten Sicherheitsallianz in der neueren Geschichte ist ihre Fähigkeit, sich an veränderte politische Rahmenbedingungen anzupassen. Anders als Wirtschaftsunternehmen, die ihre Marktstrategien ständig überprüfen, werden neue NATO-Strategien nur in großen Zeitabständen formuliert. Ganze sieben solcher strategischen Konzepte hat es in der fast 70-jährigen Geschichte des Bündnisses gegeben. Selten wurden Strategien im Voraus geschrieben. Meistens sind sie entstanden, wenn ihre Inhalte schon längst Realität gewesen sind. Sie verschriftlichen, was das Bündnis in Reaktion auf sicherheitspolitische Veränderungen bereits längst in der Praxis tut.

Das Strategische Konzept von 1999 betonte die Notwendigkeit des Krisenmanagements, nachdem die NATO diese Aufgabe schon seit 1995 auf dem Balkan wahrgenommen hatte. Im Strategiepapier von 2010 wurde die kooperative Sicherheitsvorsorge durch Partnerschaften als eine der Kernfunktionen der Allianz definiert, nachdem bereits eine Vielzahl von Partnerschaften in Europa, mit den Mittelmeeranrainern oder den Golfstaaten initiiert worden war. NATO-Strategien sind damit immer auch zugleich Standortbestimmungen und Festschreibungen bewährter Praktiken.

Nach einer NATO 1.0 in der NATO der Collective Defence, hatten wir eine NATO 2.0, die sich mit Krisenmanagement befasste. Heute brauchen wir beides. Heute brauchen wir eine NATO, die sich kollektiv mit der Bedrohung insgesamt aus dem Osten, auseinandersetzt und dieser begegnet. Und wir brauchen eine NATO, die weiterhin am Rande ihres Bündnisgebietes Instabilitäten bekämpft, so Krisenvorsorge und Krisenmanagement betreibt, möglichst bevor Krisen das Bündnisgebiet destabilisieren.

Anpassungsdruck – Notwendiger Strategiewandel

Dabei stellt sich die Frage, bereiten wir uns auf die richtigen Herausforderungen vor, bereiten wir uns richtig vor? Bereiten wir uns qualitativ und quantitativ, flexibel genug, mit einem militärischen „Instrument of power“ und weiteren Instrumenten richtig vor?

Es gibt in der Allianz ein neues Bewusstsein für Bündnisverteidigung – Collective Defence. Dabei sind vor allem diejenigen Alliierten die Treiber des Geschehens, die sich von Russland emotional und existenziell bedroht fühlen. Der Gegner wird vor allem von unseren osteuropäischen Bündnispartnern an ihren jeweiligen Grenzen wahrgenommen.

Internationaler Terrorismus bedroht weitere Alliierte ganz konkret an ihren Grenzen und immer wieder auch auf ihren Territorien. Herrschaftsfreie Räume jenseits der Allianz haben destabilisierende Sekundäreffekte auf einzelne Mitgliedsstaaten.

Die Eventualfallplanungen in der Allianz werden vorangetrieben und das dazu notwendige Kräftedispositiv immer umfangreicher. Verlegung und Verstärkung innerhalb des Bündnisses wird wieder gedacht und bald auch geübt. Die anstehenden Großübungen mit der Beteiligung etlicher Alliierter zeugen davon. Das wird ein großes Thema in 2020 und darüber hinaus. Dabei leistet Deutschland mit dem neuen Joint Support and Enabling Command in Ulm (JSEC) einen wichtigen Beitrag für die Zukunft der Allianz.

Autor: Oberst i.G.  Ralph Meyer, Deutscher Militärischer Vertreter im Militärausschuss der NATO und EU